Überfall am Morgen

Meine Freundin S. hatte einen Todesfall im Freundeskreis ihrer Eltern. Der beste Freund ihres Vaters und ihr Wahlonkel ist im Ausland tödlich verunglückt. Die ganze Geschichte hat sie mir am Dienstag in aller Ruhe erzählt und auch von den Unstimmigkeiten bei der Geschichte des Überlebenden und dessen Frau.

Ich habe ihr zugehört und mit ihr darüber in aller Ruhe gesprochen. So weit so gut.

Am Mittwoch hat sie mich dann gleich in der Früh mit ihrer neuesten Theorie überfallen. Und mit gleich in der Früh meine ich 6 Uhr 45 ohne Kaffee. Und die neue Theorie war sehr negativ. Der Freund würde lügen, seine Frau würde lügen, alle würden lügen, der Onkel könnte noch leben….

Eine total selbstverständliche Reaktion. Für mich um diese Uhrzeit ohne Kaffee allerdings eine enorme Herausforderung. Ich hörte ihr trotzdem zu, doch dann klingelte ihr Telefon und die Leier begann von vorne. Also ging ich. Ich musste erst man munter werden. So viel Tod und Verschwörung packe ich einfach nicht vor 7 Uhr morgens!

Sie kam dann auch nach und fragte ob sie mich beleidigt habe. Nein, aber ich vertrage so viel Negativität und Tod nicht am frühen Morgen – noch dazu von Menschen die ich nicht kenne und kaum der verworrenen Geschichte folgen kann.

Ihr sei es aber ein Bedürfnis darüber zu reden. Okay, das verstehe ich. Also starteten wir noch mal. Und ich hörte mir das alles an. Aber ehrlich gesagt war ich dann sehr froh als Mrs. Wichtig kam und übernahm!

Ich bin ja gerne für sie da, aber manchmal tue ich mir mit ihrer Negativität echt schwer. Mit der Trauer hätte ich ja noch irgendwie umgehen können, aber mit den Theorien die sie sich da dann immer zusammenreimt und die sie einem dann auch im Detail erzählen will, die sind mir einfach zu steil.

Ich bin da einfach anders. Ich setze mich mit meiner Trauer auseinander und grabe nicht so lange bis ich jemand die Schuld für einen Unglücksfall geben kann. Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert. Katastrophen passieren und nicht immer ist jemand Schuld. Natürlich kann ich ihr das in dem Moment nicht sagen, aber ehrlich gesagt weiß ich dann oft gar nicht was ich sagen soll – obwohl offenbar auch Zuspruch erwartet wird. Ich bin aber nun mal nicht bereit jemand den ich nicht kenne, für eine Situation bei der ich nicht dabei war, als Schuldigen hinzustellen.

Und so beschränkte sich mein Input auf „Naja, wir waren nicht dabei.“ „Du weißt ja nicht ob er nicht unter Schock steht.“ „Wer weiß was er seiner Frau erzählt hat.“ „Wir wissen ja nicht, was er selber beim Unfall alles wahrgenommen hat.“ „Vielleicht gibt er sich selber die Schuld.“

Und das finde ich eben anstrengend. Ich kenne die Leute alle nicht. Ich war nicht dabei. Ich kenne den Ort des Unfalls nicht. Ich kann es mir auch nicht vorstellen, wenn ich nur ein Foto sehe von einem Abhang.

Ich war einfach noch nicht bereit für so ein Gespräch. Ich schätze, wenn sich die Wogen gelegt haben, muss ich ihr mal in aller Ruhe klarmachen, dass ich in der Früh vor meinem ersten Kaffee für so was einfach noch nicht bereit bin zur Aufnahme! Bei aller Freundschaft, aber da muss ich ab sofort eine Grenze ziehen.

Trauer geht auch in der Früh, Verschwörungstheorien – so sie denn unbedingt notwendig sind – bitte erst ab 9 Uhr.

© Libellchen, 2019

 

 

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