Familie ist doch etwas Komisches. Man fühlt sich verbunden und/oder verpflichtet. Man steht für einander ein und/oder zueinander. Es gibt Bluts-, Wahl-, oder Stiefverwandtschaft. Onkeln die eigentlich gar nicht mit einem verwandt sind und solche mit denen man zwar verwandt ist, doch nichts davon weiß. Meine Familie ist dabei eine ganz besondere Spielwiese. Und ich könnte stundenlang darüber schreiben, doch für heute möchte ich mich einem ganz speziellen Problem widmen. Meiner Großmutter und meinem verstorbenen Onkel.
Meine Großmutter hat mich großgezogen. Sie gab mir ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Essen. Dafür bin ich sehr dankbar. Doch sie gab mir auch anderes mit auf den Weg. Verbitterung, Neid, Vorurteile, Missgunst, Leidensfähigkeit,….. Sie war Zeit ihres Lebens eine Märtyrerin. Sie kaufte mir von ihrem „letzten“ Geld eine nicht passende Jean und erwartet überschwängliche Freude, da sie sich für mich aufopferte. Sie zwang mich die Nachspeise zu essen, die mir nicht schmeckte, damit sie danach ihrer Nachbarin erzählen konnte, dass sie sich keine neue Kleidung kaufen konnte, damit ich meine Lieblingsnachspeise bekomme. Meine Meinung, meine Wünsche, meine Fragen interessierten sie nicht. Sie lehrte mich ihre Weltanschauung, unangenehme Fragen hierzu, überhörte sie einfach. Sie behütete und beschützte mich und sah nicht dass sie mich damit einsperrte. Ich kann mich an keinen Moment in den letzten 36 Jahren erinnern, wo sie mich in den Arm nahm oder mir sagte, dass sie mich mag – von Liebe will ich erst gar nicht anfangen.
Ich wusste irgendwo tief in meinem Hinterkopf, dass ich einen Onkel habe. Doch dass er fast neben an wohnt, dass wusste ich nicht. Bis er mir mal gegenüber stand. Ich war damals 16 und kellnerte und er gab mir 100 Schilling Trinkgeld. Er wusste wer ich war, ich hatte keine Ahnung. Er klärte mich auf. Ich war damals sehr zurückhaltend. Denn wenn meine Großmutter 40 Jahre kein Wort mit ihrem eigenen Sohn sprach, musste das doch einen ganz argen Grund haben – vielleicht ist er ja ein Killer? Nun, er war Koch und meine Großmutter eine eiskalte Frau, die sogar ihren eigenen Sohn verstoßen hat, nur weil ihr nicht gefallen hat, dass er sich auf die Seite seines Vaters stellte, nachdem sie ihn betrogen hatte.
Bei meiner Großmutter wuchs ich 16 Jahre auf, meinen Onkel habe ich 3 Mal gesehen. 2 Mal in dem Restaurant in dem ich kellnerte und 1 Mal im Spital nach seinem Schlaganfall, kurz bevor er starb. Ich war damals zu ihm gefahren, weil ich es für meine Pflicht hielt. Ich hatte keinerlei Verbindung zu ihm, doch ich setzte mich an sein Krankenbett, strich ihm ein Butterbrot, fütterte ihn und hielt seine Hand. Eine Woche später war er tot.
Vor 2 Wochen rief mich meine Mutter an, dass meine Großmutter einen Schlaganfall gehabt hatte und nun im Spital lag. Ich fuhr also hin – natürlich. Ich hielt ihre Hand, beobachtete sie, redete mit ihr und fuhr wieder. Das war am Freitag. Am Montag im Büro plauderte ich wie immer mit Margit, über die Serien die wir geschaut hatten, die Bücher die wir gelesen hatten. Wir alberten rum wie immer, bis mich meine Mutter anrief um mir zu sagen, dass sie die Sachwalterschaft für meine Großmutter übernehmen würde. Nach dem Gespräch sagte ich zu Margit
Ich: Ach ja, bei meiner Großmutter war ich auch.
Margit: Und wie geht’s ihr?
Ich: Schlecht, sie kann sich nicht mehr artikulieren
Margit: Oh das ist heftig
Ich: Eigentlich ist es recht angenehm
Natürlich schockierte das Margit. Würde es mich wahrscheinlich auch, wenn mir das jemand über seine Großmutter sagt. Doch es ist keine Show. Der Besuch bei ihr hat mich tatsächlich kalt gelassen. Das erste Mal in meinem Leben, hat mich der Besuch nicht emotional fertig gemacht. Warum? Weil sie mich nicht mehr beschimpfen kann. Weil sie mich nicht mehr klein machen kann. Weil sie mich nicht mehr mit Worten verletzen kann.
Ich war die Woche auch mit meinem Vater Kaffee trinken und ich glaube, ich habe nicht erzählt dass meine Großmutter im Spital ist. Ich habe es ganz einfach vergessen. Und als mir das auffiel, wurde mir auch klar, dass mich der Besuch bei meinem Onkel den ich kaum kannte, weit mehr mitgenommen hat, als der Besuch bei ihr. Heute war ich wieder bei ihr. Und ich kann nur sagen, da ist nichts. Keinerlei emotionale Nähe. Ich halte ihre Hand und fühle nichts. Die Schwestern schauen mich mitleidig an und ich denke mir nur „Schon okay, so lange sie nicht reden kann, verstehen wir uns echt toll.“
Als ich zu ihr reinging, strich ich ihr über den Kopf und dann hielt ich ihre Hand. Sie sah mich an – ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mich auch erkannte – dann drehte sie den Kopf weg und beobachtete die Tochter ihrer Bettnachbarin. Sie hat mich konsequent ignoriert und ich habe konsequent ihre Hand gehalten – die vollen 20 Minuten die sie Besuch empfangen darf. Dabei habe ich darüber nachgedacht, warum sie mich nicht ansieht. Hat sie mich nicht erkannt? Will sie mir weh tun? Beschimpfen kann sie mich nicht, vielleicht ist das ihre neueste Form mir ihre Verachtung mitzuteilen? Denkt sie sich überhaupt etwas? Schließlich kam ich zu dem Ergebnis, dass es mir egal ist. Ich war da und habe somit meine familiäre Pflicht erfüllt. Wenn sie mich ignorieren will, bitteschön! Es gibt weit schlimmeres!
© Libellchen, 2014
Familien sind oft sehr schwierige Konstellationen, weil man sie sich nicht aussuchen kann. Oft sitzen Menschen zusammen, die nicht unterschiedlicher sein könnten und die nichts miteinander zu tun haben wollen würden, wenn sie sich aufgrund des Verwandschaftsgedankens nicht verpflichtet fühlen würden.
Es ist oft traurig und verletzend, gerade in Situationen wie du sie schilderst. Das Beste ist tatsächlich die Entwicklung einer emotionalen Distanz.
Und die Erkenntnis, dass man weder schuldig noch verantwortlich für die Disharmonien ist, sondern einfach nicht kompatibel.
Ja man muss lernen mit dem zu leben, das man vom Leben so mitbekommt – und wenn es eine heftige Familie ist. 🙂
Für die Erkenntnis dass nicht jede Disharmonie meine Schuld ist, brauchte ich allerdings 20 Jahre. Und das ist eigentlich das schreckliche – wenn Kindern vermittelt wird, dass sie „falsch“ sind. Dass sie nicht sie selbst sein dürfen, weil sie so sein müssten wie man sie gerne hätte.
Nun, jetzt bin ich ICH und mit jedem Tag wo ich „bei mir selbst bleibe“, hat sie sich schwerer getan mich zu verletzen. Die Sprachlosigkeit ist jetzt irgendwie das Tüpfelchen auf „i“. Nun kann ich sie besuchen und gehe nicht mit einem schlechten Gefühl.