35 Minuten

So lange fahre ich von mir zu Hause zu meiner Großmutter ins Pflegeheim. 35 Minuten die ich immer und immer wieder aufgeschoben habe. Und das gleich aus mehreren Gründen.

1. Ich habe ein angespanntes Verhältnis zu meiner Großmutter.
2. Das Pflegeheim liegt in der Nähe des Ortes wo ich aufgewachsen bin.
3. Ich hatte immer irgendetwas Besseres zu tun.

Gut Punkt 3 ist eine gute Ausrede, doch welche der beiden anderen Punkte mich mehr abschreckt, kann ich nicht sagen. Zu Allerheiligen habe ich mich dann doch mal wieder überwunden. Nach dem Mittagessen setzte ich mich ins Auto und fuhr los.

Und von dem Moment an, wo ich in das Tal, in dem ich aufgewachsen bin, eingebogen bin, sind unzählige Erinnerungen auf mich eingeprasselt. Erinnerungen an Schmerz, Trauer, Leid, Verlangen, Depression, Wut, Liebe, Lust, Party, Drogen, Einsamkeit, Sex,…..

Tausend Erinnerungen an Menschen einer längst vergangenen Zeit. Gute und schlechte Erinnerungen. Eine Achterbahn der Gefühle. Und plötzlich wurde mir klar, dass das schon immer so war. Jedes Mal wenn ich in den „Graben“ fahre, bricht meine komplette Vergangenheit auf. Plötzlich sind sie alle wieder da. Alle Momente an die ich sonst nie denke. Alle Menschen, die schon lange aus meinem Leben verschwunden sind. Alle Orte an denen ich mich zu Hause gefühlt habe. Alle Situationen die mir Angst gemacht haben. Alle Menschen die mich verletzt haben.

Ich hatte eine sehr durchwachsene Jugend. Bis 16 war ich „eingesperrt“ bei meinen Großeltern und von 16 bis 19 wollte ich dann die verlorenen 16 Jahre nachholen. Rückblickend kommen mir die 3 Jahre wie ein ganzes Leben vor. Was ich in diesen 3 Jahren gesehen, gespürt und getan habe, erleben andere ein ganzes Leben nicht. Es war die schönste Zeit meines Lebens, aber auch die erschreckenste. Es war die lockerste Zeit meines Lebens, aber auch die gefährlichste. Ich habe geliebt wie nie wieder in meinem Leben. Aber ich habe auch gelitten wie nie wieder in meinem Leben. Ich wandelte 3 Jahre lang an einer Klippe. Es war mir egal was mit mir passiert und trotzdem stürzte ich nicht ab. Im Gegensatz zu anderen. Und ich konnte nur hilflos zu sehen.

Als ich zu Allerheiligen wieder mal in meinen Heimatort fuhr, wurde ich mir dieser Tatsache wieder mal bewusst. Ich weiß nicht warum, aber immer wenn ich mich körperlich dort aufhalte, kommen auch die Gefühle wieder hoch. Es ist als würden meine Gefühle dort die ganze Zeit rumhängen und nur darauf warten, dass ich mal wieder vorbei komme. Es ist erschreckend wie wohl ich mich trotz allem in dem Ort fühle. Diese Verbundenheit macht mir ein wenig Angst. Es ist als würde der Ort mich wieder in seinen Bann ziehen wollen. Doch das Gefühl bleibt nicht lange. Der Ort hat sich verändert. Die Menschen haben sich verändert. Sobald ich das sehe, ist diese Anziehungskraft schlagartig wieder weg. Und der Ort erscheint mir plötzlich viel kleiner, als er tatsächlich ist.

Irgendwie komisch. Und weil es schon so komisch war, machte ich auf dem Heimweg auch noch einen Zwischenstopp beim Friedhof und hab die Gräber meiner Familie besucht. Und als ich da so am Grab meines Großvaters und meines Onkels stand, brach sich die Sonne ihren Weg durch den Nebel. Gerade als ich die Männer meiner Familie bat, auf mich aufzupassen, erschien die Sonne am Himmel. Und auch wenn ich es als gutes Omen deute, war es doch irgendwie erschreckend. Ich besuchte aber auch noch das Grab meines anderen Onkels – immer noch die Sonne hoch am Himmel. Auch ihn bat ich auf mich aufzupassen und dann flüchtete ich wieder nach Hause. Als ich beim Friedhofstor rausging, war die Sonne auch wieder verschwunden und als ich aus dem Ort rausfuhr, lies auch das bedrückende Gefühl nach. Zurück zu Hause schüttelte ich noch die letzten negativen Gedanken ab und machte mir einen Tee. Zu Hause war dann alles wieder gut. Doch genau genommen, holt mich jedes Mal wenn ich „in den Graben“ fahre, meine Vergangenheit wieder ein. Vielleicht wird es Zeit, sich mal bewusst damit auseinander zu setzen…..

© Libellchen, 2012

2 Kommentare zu “35 Minuten

  1. Es ist gut, dass du hingefahren ist. Die Sache mit der Vermeidung ist eine ganz normale menschliche Reaktion, aber leider eigentlich das Schlimmste, was man tun kann. Ein „ganz einfacher“ Trick aus der Psychologie ist es, sich mit seinen Ängsten auseinander zu setzen, denn dann gehen sie weg. Aber bis dahin ist es so ein langer Weg. Viel Glück damit!
    Lunatique

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